Der Maler Sergej Popolsin
Geboren wurde Sergej 1964 im Fernen Osten Russlands, in einem kleinen Dorf in der Taiga im Bezirk Chabarowsk. Kindheit und Schulzeit verlebte er in der westsibirischen Stadt Mariinsk. Obwohl Bleistift und Farben aus seiner Jugend nicht wegzudenken sind, setzte er sich erst im letzten Schuljahr ernstlich mit dem Gedanken auseinander, den Beruf eines Künstlers zu ergreifen.
1982, nach der Matura, versuchte Sergej in Irkutsk in der Kunstfachschule Aufnahme zu finden, doch ohne entsprechende Vorbereitung war dieses erste Unterfangen zum Scheitern verurteilt. Ihm ist dabei aber klar geworden, dass ein bloßes Naturtalent ohne begleitende fachliche Ausbildung nicht genug ist. So befasste er sich monatelang intensiv mit der Materie und bestand dann auch 1983 die Aufnahmeprüfung in die Kunstfachschule Irkutsk. Familiäre Gründe zwangen ihn jedoch, nach einem halben Jahr die Ausbildung wieder abzubrechen. Es folgten zwei Jahre Militärdienst, die Rückkehr nach Hause und der Entschluss, mit der Malerei für immer zu brechen. Sergej begann als Elektroschlosser Haushaltsgeräte zu reparieren und versuchte dabei, die Farben zu vergessen. Ein ganzes Jahr hielt er es durch; aber ein Talent, von oben gegeben, und die Liebe zum Schöpferischen, einmal im Herzen erweckt, kann man nicht unterdrücken. So fuhr Sergej wieder nach Irkutsk und legte noch einmal die Prüfung in der ihm bereits vertraut gewordenen Fachschule ab. Die Prüfungskommission nahm ihn wegen des ausreichend hohen Niveaus seiner Arbeiten gleich in das zweite Studienjahr auf.
Wieder Student geworden, stürzte sich Sergej voll in das Studienprogramm, besuchte bei führenden Pädagogen zusätzliche Abendkurse in Zeichnen und nahm begierig alles für ihn Wissenswerte auf. Um sich mit der Technik alter Meister vertraut zu machen, verbrachte er viele Stunden in der Gemäldegalerie, versäumte keine einzige Ausstellung, experimentierte für Reproduktionen mit verschiedenen Materialien und Farben, kopierte ausschnittsweise Künstler der Renaissance, des Impressionismus und studierte alte russische Ikonographie. Manchmal packte er nur das Nötigste zusammen und fuhr zu Studien an den Baikalsee. Dieser unstillbare Arbeitshunger und das Verlangen, sich eins zu fühlen mit der Natur, haben in ihm tiefe Spuren hinterlassen.
Im Jahre 1989 begann es aber in der Beziehung zwischen Sergej und einigen Pädagogen zu kriseln, immer stärker wurde das latent vorhandene Nichtverstehen zwischen ihnen. Zu dieser Zeit spielte der allgemein verbreitete sozialistische Realismus noch eine äußerst wichtige, eine fast beherrschende Rolle in der darstellenden Kunst. Die unausgesprochenen Gesetze der sowjetischen Hierarchie ließen auch in der Kunst keinen Ungehorsam zu. Fuß zu fassen in offiziellen Künstlerkreisen war ohne Selbsterniedrigung und Schmeichelei so gut wie unmöglich, von irgendwelchen eigenen Ausstellungen auch nur zu träumen, war sinnlos. Bekannte haben deshalb Sergej immer wieder geraten, besonnen zu bleiben, mit künstlerischen Experimenten aufzuhören und einfach nur ruhig, ohne sich besonders hervorzutun, auf dem eingefahrenen Weg weiterzugehen. Aber Sergej wollte nicht das machen, was man von ihm verlangte, er konnte nicht Ausführender eines fremden Willens sein.
Im Jahre 1990 verließ er deshalb die Lehranstalt. Eine taube Wand aus Unverständnis umgab ihn; Wohnprobleme, schier erdrückende Alltagssorgen und der erzwungene endgültige Abbruch seiner ohnehin schon spärlichen Kontakte zu seinem Sohn verstärkten noch die sich abzeichnende Krise. In einem Ausbruch von Verzweiflung und Ausweglosigkeit unternahm Sergej im Juli desselben Jahres einen Selbstmordversuch und verlor als Folge davon vollständig sein Augenlicht (ärztliches Gutachten: Beschädigung des Sehtraktes durch einen Kopfdurchschuss).
Eine schwarze, undurchdringliche Dunkelheit hüllt ihn von da an ein, doch Sergej gab trotzdem nicht auf. Der Wunsch, schöpferisch tätig zu sein, und das unauslöschliche Streben nach Schönem haben ihn nicht verlassen. Genesen von den Folgen des schweren Traumas begann er nach einiger Zeit wieder zu malen. Alle seine früheren Arbeiten, die noch bei ihm herumlagen, verbrannte er nach einer Reihe von unangenehmen Auseinandersetzungen mit einigen seiner Freunde, wobei nur ein Bild zufällig erhalten geblieben ist.
Seine ganze Erfahrung, die er gesammelt hat, vorher, als er noch die Möglichkeit hatte, seine Augen zu benutzen, musste er jetzt in der absoluten Finsternis neu überdenken, irgendwie systematisieren und in den Fächern seines Bewusstseins ablegen. In dieser neuen Situation war und ist Sergej gezwungen, seine künstlerischen Fähigkeiten an die eigenen physischen Möglichkeiten anzupassen.
Da er sich selbst während des Arbeitsvorganges nicht kontrollieren kann, ging er dazu über, sich kleine Hilfsmittel auszudenken. Den gesamten Arbeitsablauf für ein Bild muss er nunmehr durchüberlegen, vom Anfang bis zum Ende, bis zum letzten Pinselstrich; alle Vorskizzen und Entwürfe des künftigen Bildes ist er gezwungen im Kopf zu machen, ständig muss er dabei seine Vorstellungskraft zwingen, tätig zu sein. In der Anfangszeit malte Sergej seine Arbeiten ala prima, in einem Zug. Bald hat er aber wieder die mehrschichtige Malerei durch Lasierungen, kombiniert mit einer pastösen und körperhaften Technik, in den Griff bekommen. Damit er sich rasch und ohne Probleme im Raum seines Bildes orientieren kann und es ihm außerdem möglich ist, mehrmals zu bestimmten Einzelheiten zurückzukehren, steckt Sergej in einzelne, vorher genau durchdachte Kompositionspunkte lange, dünne Nadeln; manchmal muss er, um auch kompliziertere Aufgaben lösen zu können, verschiedene Schablonen, die er vorher aus Karton ausgeschnitten hat, zu Hilfe nehmen.
Um sicher zu sein, dass er die Farben untereinander nicht verwechselt, und um völlig auf sich selbst gestellt malen zu können, hat er sich sein eigenes System von Markierungen ausgedacht: mit dem Messer macht er in die Verschlüsse der Farbtuben verschieden geformte Einschnitte, die er dann verhältnismäßig leicht mit den Fingern ablesen kann. Auf diese Weise hat er die Möglichkeit, sich völlig frei in der ziemlich komplexen Farbwelt zu orientieren und ohne Fehler das für sein Bild notwendige Farbgamma auszuwählen. Alles scheint ganz einfach zu sein, und trotzdem berührt manchmal die kein zweites Mal wiederholbare Abfolge der farblichen Abstufungen und Schattierungen den Betrachter bis in die Tiefe seiner Seele.
Ein Jahr nach der Tragödie haben ihm Freunde geholfen, im Ausstellungssaal des Künstlerverbandes in Irkutsk eine kleine Ausstellung zu organisieren. Sie hat bei weitem keine eindeutige Reaktion unter den Kunstsachverständigen, den bereits etablierten Malern und den jungen Künstlern hervorgerufen. Die verschiedensten Stimmen waren zu hören, von völliger Ablehnung bis zur offenen Verwunderung; viele haben sich einfach geweigert zu glauben, dass Sergej selbst arbeitet, ohne fremde Hilfe. In seine Bildern beeindruckte sie vor allem die scheinbare Einfachheit, eine Komposition ohne vieler Worte, interessante Farbverbindungen und Schattierungen. Für Sergej wurde diese Ausstellung zu einem wichtigen künstlerischen Anstoss.
Polnische Künstler, die sich zu dieser Zeit gerade in Irkutsk aufhielten, haben ihn anschließend zu einem Plenair-Workshop nach Polen eingeladen. Dann folgten Einladungen von Moskauer Galerien und Museen.
1993 führte das Schicksal Sergej mit dem Regisseur Alexander Mikrikov in Moskau zusammen, der kurze Zeit später über das Leben und die künstlerische Arbeit von Sergej im Zentralen Studio für Dokumentarfilme den außergewöhnlichen Kinofilm „Und dann sah ich ...“ drehte. Der Film lief bereits mehrmals im Zentralen Russischen Fernsehen. Immer öfter erschienen in Zeitungen und Zeitschriften Berichte über den beeindruckenden Künstler, der an den Schwierigkeiten und Prüfungen des Lebens nicht zerbrochen ist.
Trotz vieler Reisen arbeitet Sergej sehr intensiv. Der Themen- und Genrebogen seiner Bilder ist ziemlich weit gespannt, sein Schaffen lässt sich kaum irgendeiner bestimmten Kunstrichtung zuordnen. Für jeden Gedanken, den er auf der Leinwand zum Ausdruck bringen will, sucht und erarbeitet er zuerst eine maltechnische Lösung, um ihn in den Farben so komplex wie nur möglich darstellen zu können.
Die Bilder von Sergej kann man nicht gleichgültig betrachten, sie sind von einer starken inneren Energie erfüllt; in ihnen verbindet sich die impulsive Ausdruckskraft des Lebens harmonisch mit einer tiefen Ruhe. Jedes einzelne Bild stimmt den Betrachter auf einen persönlichen, schweigsamen Dialog ein, der keiner Worte bedarf.
In den gegenständlichen Kompositionen, Landschaftsbildern und Stillleben lässt sich unschwer Vertrautes aus unserer Umgebung erkennen, und doch begreift man bei näherer Betrachtung, dass auf der Leinwand nicht das Äußere, nicht die sichtbare Hülle dargestellt ist, sondern der innere, tiefe Gehalt der Gegenstände, ihr Wesen.
Neben den vielfältigen emotionellen Erlebnissen und Gefühlen liegt allen Arbeiten von Sergej aber ein gemeinsamer Gedanke zugrunde: „Um zu sehen, genügt es nicht, nur zu schauen."
Jewgenij MASLOBOJEW
Methodiker und Pädagoge für Kunst
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