Artikel aus dem Katalog zur Ausstellung „DAS INNERE LICHT“, 2002
Naturhistorisches Museum Wien
ISBN 3-900275-89-0
Der Maler Sergej POPOLSIN
Bevor ich begann, diese Zeilen zu schreiben, schaute ich mir zuerst lange das Bild „Kirchhof” an. Dann presste ich meine Augen zusammen und versuchte, mit geschlossenen Augen einen Kirchhof zu sehen. Blind sozusagen, mit dem „inneren Blick”.
Ich habe aber keinen. Nur eine visuelle Erinnerung: 1993, Öl, Leinwand, 55x46.
Wir sind fast gleich alt. Er wurde 1964 geboren, als man Chruschtschow aus irgendwelchen Gründen gegen Breschnjew austauschte. Ich habe gelesen, dass Popolsin im Gebiet von Chabarowsk geboren wurde, in einem kleinen Dorf in der Taiga. Das ist irgendwo im Fernen Osten, an der Grenze zu China, dort, wohin man in den 30-er Jahren die Juden deportierte. Die Taiga - das ist ein sehr schöner und grenzenloser Wald. Und ein Dorf in der Taiga ist ein Ort, wohin niemand zurückkehren möchte. „Stilles Flüsschen”, 70x50, Öl, Leinwand, 1998.
Aufgewachsen ist er in Mariinsk. Sie haben natürlich gehört, daß Mariinsk eine mittelgroße Industriestadt ist, irgendwo zwischen Tibet und dem Nordpol. „Höhle”. Die Hauptstadt der westsibirischen GULAGs.
Seinen Wehrdienst in der Sowjetarmee hat er in denselben Jahren abgeleistet wie ich. Sie wissen natürlich auch sehr gut, wie das vor sich geht. Wie zwei Lebensjahre „unmerklich” verfliegen, der Krieg in Afghanistan, der 27. Parteitag der KPdSU, Tschernobyl, der Soldat schläft – die Dienstzeit läuft. „Samowar”. Und Sie können darauf wetten, ich kann natürlich heute noch, 16 Jahre danach, mit verbundenen Augen eine Kalaschnikow in ungefähr 40 Sekunden auseinander nehmen und wieder zusammenbauen. Aber einen Kirchhof mit geschlossenen Augen sehen – das kann ich nicht.
„Bassgeige”, „Klavier”, „Regen im Oktober”, „Regen im Juli”. Ich sehe selbst, dass es Juli ist, bin ja nicht blind!
„Selbstportrait”, 1994.
Dann hat er in der Kunstfachschule in Irkutsk studiert. „Stadt. Kreuzung - Ampeln”. Das ist dort, wo der Baikalsee ist. Der tiefste, der sauberste und der schönste See auf dem Planten Erde. Dort verenden die Fische durch industrielle Abfälle. Dort hat man ihm den Sozialistischen Realismus und den Historischen Materialismus beigebracht. Wissen Sie, was das ist ? Er weiß es sicher. Er hat ja fast alle seine Arbeiten aus dieser Zeitspanne zerstört. Ich bin auch zu diesen Examen angetreten, in eben diesen 80-er Jahren. Nur habe ich nachher sogar zum Zerstören nichts gehabt. Und auch ein Künstler werde ich nie sein, auch dann nicht, wenn ich erblinde.
„Sie ist gegangen”, 55x46, Öl, Leinwand, 1994.
1997, „Landschaft in Blau”. Ich sehe sie jetzt auch mit geschlossenen Augen vor mir. Und glaube, dass die Welt, in der wir leben, schrecklich unvollendet, widersprüchlich und unverständlich ist. Und wir Menschen sind unvollendet in sämtlichen Bedeutungen dieses Wortes. Ich sehe den „Kirchhof” und denke daran, dass wir sterblich sind. Und im Vergleich zu diesem Nachteil ist das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Flügeln, Sehvermögen, Schwanz oder Talent einfach nur unwichtig.
„Fenster”, Öl, Leinwand, 1992. Er erblindete 1990. „Der Punkt”, 1998.
Wie ist das geschehen? Weshalb? Wie arbeitet er jetzt? Wie sieht und versteht er Farbe, Perspektive und Räumlichkeit? Woher kommt die Kraft für diese enorme Arbeit? Und was ist das überhaupt, Talent, Begabung?
Neugier ist hier nicht angebracht.
Gefragt ist hier Interesse an der Malerei. Aber die Malerei von Sergej Popolsin bedarf meiner Kommentare bestimmt nicht. Sie sehen selbst, dass in diesen Bildern GOTT ist.
ER schickt uns wahrscheinlich auch solche Prüfungen als Geschenk.
Alexej ROSANOW
Theaterwissenschaftler
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